«Rechtfertigender Notstand»: Klimaaktivisten nach Protestaktion bei der Credit Suisse in Lausanne freigesprochen | NZZ (2024)

Der erste grössere Prozess in der Schweiz zu Klimaprotesten endet am Bezirksgericht in Renens mit dem Freispruch für zwölf Aktivisten. Sie hatten in einer Filiale der Credit Suisse Tennis gespielt.

Gerichtssäle haben in der Regel wenig mit Sportstadien gemeinsam. Im Lausanner Vorort Renens war dies am frühen Montagabend anders: Der Applaus war ohrenbetäubend, als der Richter seinen Urteilsspruch verlesen hatte. Die beschuldigten Klimaaktivisten, ihre Anwälte und ein Teil des Publiku*ms lagen sich in den Armen, Einzelne konnten gar ihre Tränen nicht zurückhalten. Was soeben geschehen war, qualifizierten die Anwälte später als «historisches Urteil für die Schweizer Rechtsprechung». Denn Einzelrichter Philippe Colelough hatte die zwölf Klimaaktivisten soeben in allen Punkten freigesprochen.

Diese mussten wegen eines Vorfalls vom 22.November 2018 auf der Anklagebank des Bezirksgerichts Platz nehmen: Kurz nach Mittag gingen damals gut zwei Dutzend Mitglieder der Bewegung Lausanne Action Climat (LAC) in eine Credit-Suisse-Niederlassung in Lausannes Innenstadt. Sie waren nicht zum Geldabhebengekommen. Kaum befanden sie sich im Innern, packten sie Tennisschläger aus, spannten ein Netz auf und simulierten eine Partie. Sie wollten damit gegen die Investitionspolitik der Grossbank protestieren, die mit dem populären Tennisstar Roger Federer werbe und gleichzeitig Geld in klimaschädliche Projekte und Unternehmen investiere. Die Credit Suisse (CS) widerspricht dieser Darstellung (siehe Zusatz).

Anwälte arbeiteten gratis

Der Anordnung des CS-Filialleiters, das Gebäude unverzüglich zu verlassen, widersetzten sich die Aktivisten, und auch als die Polizei auftauchte, wichen sie – mit Ausnahmen – nicht. Im Gegenteil: Sie klammerten sich aneinander und mussten einzeln abgeführt werden. Gewalt hätten sie allerdings keine angewendet, gaben die Polizisten später zu Protokoll. Nach eineinhalb Stunden war der Spuk vorbei.

Auf juristischem Terrain ging er nun aber erst richtig los. Die CS zeigte zwölf Aktivisten an, die in der Folge von der Staatsanwaltschaft zu bedingten Geldstrafen in der Höhe von insgesamt 21000 Franken verurteilt wurden – wegen Hausfriedensbruchs und Widerstands gegen Anordnungen der Polizei. Die Aktivisten fochten die Strafbefehle an, womit es zum Prozess kam, der letzte Woche startete. Zu den Verhandlungen erschienen nicht nur die Aktivisten und ihre Dutzenden Sympathisanten – darunter Nobelpreisträger Jacques Dubochet –, sondern auch 13 bekannte Anwälte, die ihre Dienste unentgeltlich zur Verfügung stellten. Staatsanwaltschaft und CS waren aufgrund der geringen Schwere der Tat abwesend. Die Beschuldigten anerkannten die Fakten vollumfänglich.

Der Einzelrichter stand also vor einer heiklen Fragestellung. Dass die Aktivisten die CS-Filiale besetzt hatten, stand ausser Frage. Aber war dies auch strafbar? Gemäss Strafgesetzbuch handelt rechtmässig, wer eine Tat begeht, «um ein eigenes oder das Rechtsgut einer anderen Person aus einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr zu retten, wenn er dadurch höherwertige Interessen wahrt».

«Einzig wirksamer Weg»

Für Richter Colelough sind die Umstände gegeben, dass die Aktivisten aus diesem sogenannt «rechtfertigenden Notstand» gehandelt hatten. Denn die Aktion sei der einzige wirksame Weg gewesen, um die Bank zu einer Reaktion zu bewegen und um die notwendige Aufmerksamkeit von den Medien und der Öffentlichkeit zu erhalten. So habe die CS sich erst zu Wort gemeldet, als über die Medien öffentlicher Druck entstanden sei. Und politische Aktionen hätten auf anderen Wegen zu nichts geführt. Kurz: Das Vorgehen der Protestierenden sei «notwendig und angemessen» gewesen.

„Historisches Urteil für die Schweizer Rechtssprechung“: Nach dem überraschenden Freispruch für die Klimaaktivisten, die in einer Filiale der @CSschweiz Tennis gespielt hatten, werden ihre Anwälte vor dem Gerichtsgebäude mit tosendem Applaus empfangen. @klimastreik pic.twitter.com/vfeB1oUA6q

— Antonio Fumagalli (@Fumagalli_A) January 13, 2020

Diese Argumentation kann aber natürlich auch anders geführt werden, und es ist alles andere als sicher, ob das Urteil vor einer höheren Instanz Bestand hätte. Gemäss «Le Temps» hat das Bundesgericht den «rechtfertigenden Notstand» bis anhin noch nie in Zusammenhang mit Protestaktionen, die auf öffentlichem Grund oder in öffentlich zugänglichen privaten Räumlichkeiten stattgefunden hatten, zugelassen. Ob die Credit Suisse oder die Staatsanwaltschaft das Urteil weiterziehen, war am Montagabend noch offen. Die CS teilte in einer Stellungnahme einzig mit, dass sie das Urteil zur Kenntnis nehme und den Entscheid analysieren werde.

Die Rechtsvertreter der Klimaaktivisten sprachen nach erfolgtem Urteil von einem «wegweisenden Urteil». Anwältin Irène Wettstein betonte, dass die «mutigen Jungen» das Zeichen gegeben hätten, dass man «Dinge ändern» könne. Sie wünsche sich, dass sich alle Bürger in ihrem Wirkungsfeld gegen den Klimawandel engagierten.

Unabhängig davon, ob sich weitere Instanzen mit der Tennispartie in der CS-Filiale befassen müssen – ruhig wird es in der Thematik nicht. Alleine im Kanton Waadt sind über hundert Aktivisten der Bewegung Extinction Rebellion für eine andere Aktion zu bedingten Geldstrafen verurteilt worden. Auch von ihnen haben die meisten den Strafbefehl angefochten, womit es schon bald zu weiteren Gerichtsverhandlungen kommen wird.

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Jacques Dubochet ist da, wenn ein AKW abgeschaltet wird, und er ist da, wenn Extinction Rebellion eine Strasse blockiert. Was treibt den Nobelpreisträger an? Jacques Dubochet erhielt vor zwei Jahren den Nobelpreis für Chemie. Jüngst fällt er aber vor allem als Klimaaktivist auf – nun sogar vor Gericht. Was treibt ihn an? Und wie glaubwürdig ist er?

Antonio Fumagalli, Renens

Kommentar Ein historisches Urteil: Klima-Aktivisten siegen gegen die Credit Suisse mit 6:0 Völlig überraschend spricht das Lausanner Bezirksgericht die Aktivisten frei, die in einer Bankfiliale Tennis gespielt hatten. Das Urteil könnte den Umgang mit zivilem Ungehorsam für immer verändern. Es wäre jedoch wünschenswert, wenn sich weitere Gerichte mit der heiklen Fragestellung auseinandersetzen würden.

Antonio Fumagalli, Renens

Roger Federer gerät ins Fadenkreuz von Greta Thunbergs Getreuen – und reagiert, wie er es immer tut Banken, Geländewagenfahrer oder Politiker: Die Klimabewegten um Greta Thunberg lieben Sündenböcke. Neuerdings gehört auch Roger Federer dazu – und er hat auf seine Weise reagiert.

Lucien Scherrer

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